Dieser Artikel wurde am 28. Dezember 2024 aktualisiert und auf den neuesten Stand gebracht!
Wenn ein Pferd Angst zeigt, stehen viele vor der Frage: Soll man es beruhigen und belohnen, oder riskiert man dadurch, die Angst zu verstärken? Eine verbreitete Meinung besagt, dass man das Verhalten eines Pferdes in Angstsituationen ignorieren oder mit Druck beeinflussen sollte, damit es sich „zusammenreißt“. Doch moderne Erkenntnisse aus der Verhaltensforschung und Neurobiologie zeigen ein anderes Bild: Angst ist eine grundlegende Emotion, die nicht einfach durch Belohnung verstärkt werden kann. Stattdessen bietet ein positiver, belohnungsbasierter Ansatz eine effektive und pferdefreundliche Möglichkeit, Ängste zu bewältigen und Vertrauen aufzubauen.
Angst und Belohnung: Was sagt die Wissenschaft?
Neurobiologisch ist es nicht möglich, Angst durch Belohnung zu vergrößern. Es ist jedoch möglich, positive Emotionen zu steigern, indem man gezielt positiv verstärkt. Wird ein Pferd also in einer angenehmen Situation belohnt, empfindet es diese als noch positiver – vorausgesetzt, die Belohnung wird auch tatsächlich als solche wahrgenommen. Ein Beispiel hierfür sind primäre Verstärker wie Futter, die beim Pferd unmittelbar positive Emotionen auslösen. Klopfen am Hals hingegen wird von vielen Pferden nicht als Belohnung empfunden.
Das Gleiche gilt auch in Angstsituationen – vorausgesetzt, das Pferd ist noch in der Lage zu fressen und seine Angst hat nicht die Schwelle überschritten, bei der es kopflos und panisch reagiert. Empfindet ein Pferd eine Situation als unangenehm und wird belohnt, nimmt es diese Situation als weniger bedrohlich wahr. Emotionen können nicht „verstärkt“ werden, wenn eine gegenläufige, positive Emotion hinzukommt.
Verhalten unter Druck und Gegenkonditionierung
Es gibt jedoch Faktoren, die das Verhalten eines Pferdes beeinflussen und Angstverhalten verstärken können. Wird das Pferd beispielsweise daran gehindert, seinem natürlichen Fluchtverhalten nachzugehen, oder wird es durch Druck gezwungen, eine als gefährlich empfundene Situation zu ertragen, kann es zwar lernen, diese zu tolerieren. Oftmals verändert sich dadurch jedoch nicht die zugrunde liegende emotionale Reaktion – das Pferd hat weiterhin Angst. Schlimmer noch, die unangenehmen Gefühle können sich durch die erlebte Hilflosigkeit verstärken, auch wenn das Verhalten äußerlich kontrollierbar erscheint.
Ein Beispiel aus der Hundeerziehung verdeutlicht dies: Wird ein Hund, der andere Hunde anknurrt, durch einen Leinenruck oder verbale Drohungen bestraft, stellt er das Knurren irgendwann ein. In einer Situation, in der der Mensch den Hund nicht beeinflussen kann oder die Bedrohung durch den anderen Hund die Bedrohung durch den Menschen übersteigt, kann der Hund jedoch ohne Vorwarnung zubeißen, statt zuerst zu drohen. Andererseits: Wird der Blickkontakt des Hundes zu anderen Hunden jedes Mal durch Futter belohnt, kann er lernen, andere Hunde als weniger bedrohlich wahrzunehmen – ein vereinfachtes Beispiel für Gegenkonditionierung.
Angst und die Neurobiologie des Pferdes
Angst ist ein überlebenswichtiger Schutzmechanismus des Pferdes, denn als Fluchttier muss es schnell auf mögliche Gefahren reagieren können. Diese Bewertung, ob etwas gefährlich ist oder nicht, findet in einem Bereich des Gehirns statt, der Amygdala genannt wird. Die Amygdala gehört zum sogenannten limbischen System, das für die Verarbeitung von Emotionen verantwortlich ist. Ihre Aufgabe ist es, blitzschnell zu entscheiden, ob das Pferd flüchten, einfrieren oder kämpfen sollte. Das passiert so schnell, dass das Pferd gar keine Zeit hat, bewusst darüber nachzudenken – diese Art der Reaktion ist unwillkürlich und unbewusst. Das Denken und Abwägen findet erst später in einem anderen Teil des Gehirns statt, dem Kortex, der für bewusstes Nachdenken zuständig ist.
Bei Fluchttieren wie Pferden ist die Amygdala besonders empfindlich gegenüber potenziellen Bedrohungen. Sie „überwacht“ die Umgebung ständig, um das Überleben zu sichern. Auch wenn die Reaktion manchmal übertrieben erscheinen mag, sorgt diese Empfindlichkeit in der Natur dafür, dass das Pferd Gefahren rechtzeitig erkennt und vermeiden kann.
Belohnungen können aber genutzt werden, um diese emotionalen Reaktionen positiv zu beeinflussen. Wissenschaftlich ist es nicht möglich, Angst durch Belohnung zu verstärken, weil Angst eine Emotion ist, die von der Amygdala gesteuert wird und nicht durch Belohnungen „gelernt“ werden kann. Positive Reize wie Futter (sogenannte primäre Verstärker) können jedoch die Aktivität in den Belohnungszentren des Gehirns anregen. Dadurch wird Stress reduziert und das Pferd fühlt sich wohler. Entscheidend ist, dass die Belohnung vom Pferd auch tatsächlich als angenehm empfunden wird – Futter ist hierbei besonders effektiv, während Klopfen oder Streicheln oft weniger Wirkung zeigt.
Stimmungsübertragung: Der Einfluss des Menschen
Ein weiterer Aspekt ist die Stimmungsübertragung zwischen Mensch und Pferd. Obwohl Spiegelneuronen – spezielle Nervenzellen, die bei der Ausführung und Beobachtung von Handlungen aktiv sind – ursprünglich bei Affen entdeckt und später auch beim Menschen nachgewiesen wurden, fehlen bisher direkte wissenschaftliche Belege für ihre Existenz bei Pferden. Dennoch zeigen Verhaltensbeobachtungen, dass Pferde sehr empfänglich für die Emotionen und Stimmungen ihrer Umgebung sind. Sie reagieren nicht nur auf die Emotionen ihrer Artgenossen innerhalb der Herde, sondern auch auf die ihres menschlichen Gegenübers.
Dies deutet darauf hin, dass Pferde über neuronale Mechanismen verfügen, die es ihnen ermöglichen, Emotionen und Stimmungen wahrzunehmen und entsprechend zu reagieren – ähnlich den bekannten Funktionen der Spiegelneuronen. Wissenschaftlich ist jedoch noch unklar, ob Spiegelneuronen bei Pferden tatsächlich existieren oder ob andere neurobiologische Prozesse dafür verantwortlich sind. In der Praxis bedeutet dies, dass die emotionale Haltung des Menschen einen erheblichen Einfluss auf das Verhalten des Pferdes haben kann: Ein ruhiger, zuversichtlicher Mensch kann die Angst eines Pferdes verringern, während eine angespannte oder panische Haltung die Angst verstärken kann.
Zusammenfassung / Wichtige Erkenntnisse
- Angst ist eine Emotion, keine bewusste Entscheidung: Pferde „entscheiden“ nicht, Angst zu haben, sondern reagieren unbewusst auf potenzielle Gefahren. Diese Reaktion wird von der Amygdala gesteuert und kann nicht operant verstärkt werden.
- Belohnung verstärkt keine Angst: Es ist neurobiologisch unmöglich, Angst durch Belohnung zu vergrößern. Stattdessen kann positive Verstärkung die emotionale Wahrnehmung verbessern und das Stressniveau senken.
- Primäre Verstärker sind besonders effektiv: Futter als Belohnung wirkt direkt auf die Belohnungszentren des Gehirns und hilft dem Pferd, eine positive Verbindung zur angstauslösenden Situation aufzubauen. Klopfen oder Streicheln ist oft weniger wirkungsvoll.
- Druck kann die Angst verstärken: Wird das Pferd durch Druck oder Zwang dazu gebracht, eine bedrohliche Situation auszuhalten, lernt es zwar, die Situation zu tolerieren, aber die zugrunde liegende Angst bleibt bestehen oder wird sogar verstärkt.
- Stimmung des Menschen ist wichtig: Pferde reagieren sensibel auf die Emotionen ihres Gegenübers. Ein ruhiger und selbstbewusster Mensch kann die Angst des Pferdes verringern, während Stress oder Unsicherheit des Menschen die Angst verstärken können.
- Geduld und positive Erlebnisse sind der Schlüssel: Pferdefreundliches Training bedeutet, das Pferd langsam an Reize zu gewöhnen und seine Ängste durch positive Erfahrungen zu überwinden.
Fazit
Angst ist für Pferde ein natürlicher Schutzmechanismus, der nicht bewusst kontrolliert oder durch Belohnung verstärkt werden kann. Stattdessen bietet der gezielte Einsatz von positiven Verstärkern wie Futter eine effektive Möglichkeit, das emotionale Empfinden des Pferdes zu verbessern und Vertrauen aufzubauen. Druck und Zwang hingegen können die zugrunde liegende Angst verstärken und sollten vermieden werden. Gleichzeitig spielt die emotionale Haltung des Menschen eine entscheidende Rolle: Ein ruhiger und sicherer Umgang kann die Angst des Pferdes reduzieren und die Basis für eine langfristig vertrauensvolle Beziehung schaffen.
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Danke für den gut zusammengefassten Artikel!
Toll und logisch geschrieben
Danke für das aha-erlebnis
Ich musste mich beim Tierarzt oft rechtfertigen warum ich meinen Hund streichel obwohl er Angst hat.
Das was du oben beschrieben hast trifft da voll den Nerv und ist so gut zu verstehen!
Man muss sich ja nur mal selbst vorstellen wie es ist in Angstsituationen ignoriert zu werden oder gar unter Druck und Zwang sich damit auseinander zu setzen.
Ich habe da nach Gefühl gehandelt aber mit fundiertem Hintergrundwissen steht man an der Stelle für sich noch klarer da bei Kritik von Aussen
MfG Rebecca Pflug
Á propos Tierarzt: da hab ich auch eine Geschichte, als mein Pferd Angst hatte, als der TA frontal auf ihn zukam .Weiterlesen …
Faktisch ist ein Ignorieren auch gar nicht so einfach. Macht das Pferd einen oder mehrere Sätze aus Schreck oder Angst und schleift den Führer hinterher, kann der sich dabei noch so ignorant und versucht neutral verhalten.Weiterlesen …
Sehr gut geschrieben. Danke dafür. Ich werde nie verstehen warum so viele Menschen mit den aversiven Methoden sympathisieren. Irgendwann müssten sie doch begreifen, dass Druck nur Gegendruck erzeugt. Gewalt erzeugt Gegengewalt oder ein gebrochenes Tier. Das kann doch niemand ernsthaft wollen. Oder…?
Leni Königstein
JuNi Mami
Danke, für dieses tolle „ahaaa“ Erlebnis…da freue ich mich gleich noch mehr auf Samstag 🙂
Passend dazu: mein Pferd hat sich heute leider einen Stromschlag geholt. Er ist natürlich fürchterlich erschrocken und hat einen Satz zurück gemacht. Ist dann aber gleich stehen geblieben und ich bin auch ganz ruhig geblieben.Weiterlesen …
Angst ist Angst. Wenn die sogenannte Belohnung dazu geeignet ist, den Zustand zu durchbrechen, dann warum nicht. Man belohnt in dem Sinne ja auch schlecht das Gefühl der Angst ,sondern eher das Akzeptieren der Ablenkung.Weiterlesen …
Als (mein Pferd und) ich Clickerneuling war(en), war mir (uns) nicht bewusst, dass der Marker und die Belohnung viel mehr können als Markieren und Belohnen, nämlich auch beruhigen und Sicherheit geben. Mein Pferd verstand es schneller als ich. Heute nutzen wir beides sehr gern & erfolgreich, wenn Pferd Angst bekommt.
Pferd: „Da ist was gruseliges! Frau, hast Du es auch gesehen? Was meinst Du, ist das schlimm? He, willst Du nicht endlich mal clickern? Wie, kein Click? Man muss das gefährlich sein!“ und dann: „Ach, da isser ja, der Click. Puh, endlich hat die Frau geguckt. Ist also doch nicht so schlimm. Kann ich dann jetzt bitte das Leckerli haben? Frau? Mensch, immer muss man sich um alles selbst kümmern. Da kann man sich ja gar nicht gepflegt aufregen. Na gib schon her das Essen – mampf.“
Abgesehen davon, dass Kauen ansich ja schon Muskulatur entspannt und darüber Emotionen regulieren kann.
Zum letzten Satz: „Aktuelle Forschungen gehen davon aus, dass die so genannten Spiegelneuronen auch artübergreifend eine Rolle spielen und sich so Emotionen und Stimmungen auch von Art zu Art übertragen lassen.“ Die Forschung war schon vor mind. 10 Jahren so weit, hab das damals in meiner Diplomarbeit behandelt. Für eine Quelle müsste ich jetzt aber auch meinen Dachboden klettern – bin ich jetzt aber zu faul für.