Dieser Artikel wurde am 1. Juni 2014 aktualisiert und auf den neuesten Stand gebracht!
Natürlich gibt es verschiedene lerntheoretische Ansätze, mit denen wir uns im Laufe dieser Artikelreihe beschäftigen werden. Das Thema Gewöhnung und Desensibilisierung, und auch das Thema Sensibilisierung, begleiten uns im Alltag. Sei es im Umgang mit Sprühflaschen, beim Hängerfahren oder auch beim Verwenden verschieden Equipments. Es bedeutet aus wissenschaftlicher Sicht, dass das Verhalten, welches auf einen wiederkehrenden Reiz folgt, der weder eine ausgeprägt angenehme, noch unangenehme Auswirkung hat, geändert wird. Das ist eine sehr schlaue Einrichtung der Natur, denn auf diese Weise spart das Pferd Energie – und wir Menschen Nerven. Würde sich das Pferd in freier Wildbahn vor allem erschrecken, würde es schnell einem Jäger zum Opfer fallen, da es nicht ausreichend Energiereserven hätte, wenn es wirklich notwendig ist, zu flüchten. Ganz zu Schweigen davon, wie wir unsere Arbeit gestalten würden, wenn das Pferd sich vor jedem Geräusch erschrecken würde. Daher ist es wichtig, sich mit dem Thema Gewöhnung und Desensibilisierung auseinander zusetzen.
Gewöhnung ist reizspezifisch, das heißt, gewöhne ich ein Pferd an etwas, zeigt das Pferd zunächst nur bei identischen Reizen eine abgeschwächte oder keine Reaktion mehr. Bei ähnlichen Reizen erfolgt zunächst die normale, unkonditionierte Reaktion des Pferdes. Gewöhne ich das Pferd also an rote Plastiktüten einer Supermarktkette, würde es sich bald nicht mehr vor diesen erschrecken. Bringe ich am nächsten Tag aber eine blaue Plastiktüte eines Discounters mit, so kann diese sehr wohl noch ein pferdefressendes Monster darstellen. Mit zunehmender Übung mit unterschiedlichen Plastiktüten stellt sich jedoch eine Generalisierung ein, so dass das Pferd auch mit ähnlichen Reizen kein Problem mehr haben wird. Ein positiver Nebeneffekt: Zusätzlich zur Abschwächung des Reizes, festigt sich auch das Vertrauen zwischen Pferd und Mensch und es werden Strategien und Muster zur Bewältigung solcher Schwierigkeiten entwickelt, so dass das Pferd schneller und kontrollierter an neue Dinge herangeführt werden kann.
Gewöhnung ist außerdem reversibel. Es reicht also nicht aus, das Pferd einmal an einen Gegenstand zu gewöhnen und dann darauf zu bauen, das dieser Lebenslang ungefährlich ist. In regelmäßigen Abständen muss geübt werden, da die Rezeptoren sonst ihren Urzustand annehmen und das Pferd die ursprüngliche Reaktion zeigen wird. Wer also Monate nach dem Hängertraining erneut ein Verladeproblem hat, ist nicht zwingend an einen schlechten Trainer geraten, sondern hat auch nicht geübt. Wer viel Geld in Hängertraining investiert, sollte also auch selbst verstehen, wie er zukünftige Verladeprobleme angeht und regelmäßig Üben, damit er nicht im Ernstfall eine böse Überraschung erlebt. Es reicht außerdem eine einzige negative Erfahrung aus, um nicht nur den Urzustand wieder herzustellen, sondern ein regelrechtes Trauma zu verursachen, welches einen noch weit davor beginnen lässt.
Wie gewöhnen Sie das Pferd also an neue Dinge?
Sicher nicht, in dem Sie die Plastikplane in den Schweif des Pferdes Knoten und abwarten, bis es sich daran gewöhnt hat. Klingt das für Sie absurd? Das ist es leider nicht. Auch diese Methoden sind längst nicht veraltet. Das „Aussacken“, bei der das Pferd am Strick fixiert oder gehalten mit dem Schreckgespenst konfrontiert wird, ist immer noch häufig zu sehen. Oder der Sattel, der auf das junge Pferd geschnallt wird, welches dann losgelassen wird und versucht, diesen loszuwerden, bis es ermüdet und feststellt, es lebt immer noch. Kennen Sie ein Pferd, welches Angst vor Sprühflaschen hat? Wie wird dieses Problem behoben? Häufig, indem das zappelnde Pferd angebunden wird, während es eingesprüht wird: „Leb damit! Es geht vorbei …“ ist häufig die Devise. Dabei schaukelt sich dieser Zustand gerne weiter hoch, so dass man an manche Pferde gegen Ende des Sommers kaum noch herankommt, wenn man eine Sprühflasche in der Hand hat oder allein der Anblick oder das Geräusch Angstzustände auslösen. Haben Sie Angst vor Spinnen? Denken Sie, diese Angst kann kuriert werden, in dem man sie zur Konfrontation zwingt? Bei mir jedenfalls, hat dies nicht geholfen. Wenn jemand eine Spinne auch nur in die Hand nimmt, um sie zu entfernen, nehme ich schon Reißaus. Zu oft habe ich erlebt, dass mein vermeintlicher Retter, die Spinne nicht einfach entfernt, sondern diese auch noch lachend in meine Richtung trägt …
Nicht bei jedem Pferd, nimmt es solche Ausmaße an, doch im schlimmsten Fall kann dies passieren. Eine solche Vorgehensweise ist der erste Schritt in die erlernte Hilflosigkeit. Das Pferd lernt, dass es aus der unangenehmen Situation nicht fliehen kann und wird passiv, es stellt seine Gegenwehr ein. Der Mensch freut sich, dass das Pferd sich beruhigt und an den Gegenstand „gewöhnt“ hat, während das Pferd etwas sehr unangenehmes gelernt hat: Meine Meinung ist nicht gefragt, im Zweifel sage ich besser nichts, damit es schneller vorbei geht. Das ist nicht nur sehr unangenehm für das Pferd, sondern unterdrückt den natürlichen Instinkt des Pferdes und stumpft es ab. Gehen Sie doch mal auf ein Trailturnier oder eine GHP und beobachten Sie die teilnehmenden Pferde, nehmen Sie die unterschiedlichen Reaktionen der Pferde wahr. Welches Pferd geht aufmerksam und interessiert durch seine Umwelt und welches Pferd spult einfach nur das von ihm erwartete Programm ab, ohne auch nur mit dem Ohr zu zucken.
Statt Reizabschwächung durch Reizüberflutung, ist es besser, eine schrittweise Annäherung vorzunehmen. Natürlich müssen Sie das Pferd mit seinem persönlichen Schreckgespenst konfrontieren, wenn sie es daran gewöhnen möchten. Nähern Sie sich gerade soweit an, dass maximal ein leichtes Unwohlsein zu sehen ist, aber gehen Sie nicht bis zu dem Punkt, an dem das Pferd Angst bekommt und flüchten will. Erhalten Sie diesen Reiz auch nicht so lange aufrecht, bis das Pferd Angst bekommt, sondern Entfernen Sie diesen wieder rechtzeitig. Durch das kontinuierliche Wiederholen von Annäherung und Rückzug (Siehe auch Artikel zum Friendly Game, wird die Reizschwelle des Pferdes allmählich gesenkt. Das Pferd hat gelernt, dass es nichts zu befürchten hat und seine Gefühle respektiert werden.
Natürlich können Sie das Lernen auch durch einen positiven Verstärker wie Futter oder anderes Lob unterstützen, und so eine neutrale bis positive Reaktion des Pferdes hervorrufen. Es ist sogar möglich, Muster zu entwickeln, die das Pferd aktiv am Gewöhnungsprozess beteiligen. Wenn das Pferd seine Aufmerksamkeit auf den entsprechenden Reiz lenkt, belohnen Sie es. Üben Sie dies solange, bis das Pferd aktiv auf den Gegenstand zugeht, um ihn z. B. mit der Nase zu berühren. Nun können Sie unmittelbar, bevor das Pferd seine Nase Richtung Gegenstand reckt, ein Zeichen geben oder ein Signal nennen, damit dieses mit der Handlung des Pferdes verknüpft wird. Achten Sie darauf, das Training positiv zu gestalten und das Pferd in das Training einzubinden. Ihr Partner Pferd sollte nie unbeteiligt sein, sondern immer auch ein Mitspracherecht in Form von Meinungsäußerung haben. Achten Sie auf die Reaktion ihres Pferdes und nehmen Sie sie ernst.
» Weiter zu Teil 3 – Sensibilisierung – Weniger ist oft mehr
[…] » Weiter zu Teil 2: Gewöhnung und Desensibilisierung […]