Dieser Artikel wurde am 28. Juli 2015 aktualisiert und auf den neuesten Stand gebracht!

Lieber kraulen statt klopfenManchmal möchten wir Dinge ändern, manchmal sind es nur Kleinigkeiten, und wissen ganz genau, wie sie zu funktionieren haben. Und trotzdem: unser Gehirn versteht es, aber unser Körper tut einfach nicht das, was wir wollen. Ich weiß gar nicht, wie oft ich mich selbst schon dabei erwischt habe, meinem Pferd den Hals zu klopfen, wenn ich mich über etwas freue, obwohl ich genau weiß, dass es lieber gekrault werden will. Dabei ist es doch so einfach wie Fahrrad fahren, statt zu klopfen, lieber zu kraulen…

Eigentlich war ich gerade dabei, einen Artikel über das Verladen zu schreiben. Aber wie so oft, ließ ich mich bei meiner Recherche ablenken. Ich bin auf ein Video des YouTube Kanals „SmarterEveryDay“ (Jeden Tag ein wenig schlauer) gestoßen. In diesem Video ging es um ein Experiment mit einem umgebauten Fahrrad. Am Lenker gab es zwei Zahnräder, die dafür sorgten, dass ein Bewegen des Lenkers nach rechts dazu führte, dass sich der Reifen nach links drehte. Bis auf dieses winzige Detail, war das Rad wie jedes andere Rad auch. Doch dieses Detail änderte alles.

Es kann also nicht so schwer sein. Er stieg also auf und wollte losfahren, doch es ging nicht. Er kam nicht mal einen halben Meter, bevor er mit dem Rad umkippte. Doch er wollte es unbedingt schaffen und gab nicht auf. Über Monate brauchte er bei täglichem Üben, bis er das Fahrrad beherrschte und sein Gehirn nicht nur verstanden hatte, wie das Rad funktioniert, sondern auch die richtigen Signale an seine Muskeln sendete, um es auch tatsächlich umzusetzen. Und selbst nach 8 Monaten noch brachte ihn Ablenkung noch häufig raus und er fiel in alte Verhaltensmuster zurück. Doch je länger er mit dem Rad fuhr, desto schneller fand er nach einem Ausrutscher wieder zurück zur sicheren Fahrt.

Nachdem er 8 Monate nur mit diesem Rad fuhr, wollte er wissen, ob er noch in der Lage war, ein normales Fahrrad zu fahren, oder ob sein Gehirn das alte Verhaltensmuster verlernt hatte. Und tatsächlich war er zunächst nicht in der Lage, ein normales Rad zu bedienen. Obwohl er genau wusste, was er zu tun hatte, war er dazu nicht in der Lage. Bis nach 20 Minuten ganz plötzlich ein Schalter umgelegt wurde und seine Erinnerung zurückkehrte. Und er fuhr, wie er die letzten 25 Jahre auch gefahren war.

Vermutlich hat fast jeder von uns schon im Kindesalter gelernt, Fahrrad zu fahren. Und Fahrrad fahren verlernt man nicht. Egal wie lange man nicht mehr gefahren ist, wenn man wieder aufsteigt, fährt man innerhalb kürzester Zeit wieder, als hätte man nie etwas anderes getan. Unser Gehirn hat das Fahrradfahren als Verhalten abgespeichert und unsere Muskeln erinnern sich wieder. Und jedes Mal, wenn wir auf ein Rad steigen, wird diese Verknüpfung im Gehirn gefestigt und noch tiefer verankert. Verhalten, welches über einen langen Zeitraum bewusst trainiert wurde, wird automatisiert, so dass es bei Bedarf reflexartig abgerufen und angewandt wird, ohne dass man darüber nachdenken muss. Man denkt irgendwann so wenig darüber nach, dass man sich kaum an die einzelnen Schritte erinnert. Mir geht es zum Beispiel beim Autofahren so. Wenn mich jemand fragt, wo die Bremse ist, wie ich schalte und wie bestimmte Vorgänge passieren, kann ich das oft gar nicht ad hoc sagen, obwohl ich es schon seit vielen Jahren tue.

Das Experiment hat mich, obwohl mir diese Fakten durchaus bewusst waren, beeindruckt und mal wieder zum Nachdenken gebracht. Sowohl uns, als auch unseren Pferden geht es oftmals genauso. Oft habe ich Schüler, die ihr Leben lang Dinge immer „genau so“ gemacht haben und dann komme ich und sage „Mach das mal anders“. Sie verstehen genau, was ich sage, sie verstehen auch, warum sie etwas ändern müssen und trotzdem tun sie es nicht. Sie sind frustriert darüber, dass es nicht klappt, aber sie geben nicht auf und irgendwann klappt es dann auch, aber bis dahin ist es ein langer Weg, der sehr viel Selbstreflexion, sehr viel Übung und auch Überwindung kostet.

 

Bitten statt fordern - manchmal gar nicht so einfachUnd auch mit den Pferden ist es ebenso. Wer kennt es nicht? Jahrelang trainiert man sein Pferd darauf, seinen Körper auf eine bestimmte Art und Weise zu bewegen, bis einem auffällt, dass ein winziges Detail eigentlich anders sein müsste. Und dann versuchen wir es dem Pferd zu erklären und das ganze Verhalten bricht wie ein Kartenhaus zusammen – nichts geht mehr. Oder das Pferd tut das, was es immer tut, aber nicht dass, was es eigentlich tun soll. Möglicherweise versteht es uns sogar, ist aber nicht in der Lage, sein Verhalten zu ändern. Das Gehirn gibt ihm exakt zum Zeitpunkt unserer Hilfe das Signal, ein entsprechendes Verhalten zu zeigen. Auch hier braucht das Pferd Zeit, die Information nicht nur zu verstehen, sondern auch entsprechend umzusetzen. Als mein Pferd Tarek jünger war, brachte ich ihm bei, seitwärts zu treten. Lange Zeit habe ich ihn im Schulterherein bewegt, er bewegte sich also entgegengesetzt zur Biegung. Die Stellung nach links, die Bewegung nach rechts. Und dann wollte ich ihm Travers beibringen, wobei er in Bewegungsrichtung gestellt ist. Jahrelang hatten wir trainiert, dass seitwärts immer heißt, sich entgegengesetzt zur Biegung seitwärts zu bewegen und nun sollte dies auf einmal anders sein? Ich weiß noch genau, wie frustriert ich darüber war, dass Tarek es einfach nicht verstehen „wollte“, dass man auch in Bewegungsrichtung gestellt seitwärts laufen kann … Doch irgendwann machte es „Click“ und er verstand. Heute ist es für ihn kein Problem mehr.

Gerade bei Problemverhalten des Pferdes muss man dieses Wissen berücksichtigen. Viele Pferde, die Problemverhalten an den Tag legen (zum Beispiel treten und beißen, aber auch Durchgehen, „Büffeln“, Probleme mit Gegenständen), zeigen dieses bereits über einen langen Zeitraum. Ihr Handeln wird oftmals nicht mehr bewusst gesteuert, sondern wird reflexartig ausgelöst. Bis sich hier neue Signale etabliert haben und alte Auslöser geschwächt sind, braucht es einfach sehr viel Zeit, Übung, Verständnis und gute Planung.

Diese Form von körperlichen Reflexen trifft in ähnlicher Weise auch auf Denkprozesse zu. Auch das begegnet mir immer wieder. Wie ihr wisst, versuche ich in dem, was ich sage, immer möglichst diplomatisch zu sein und niemanden für sein Tun oder Nicht-Tun zu verurteilen. Dennoch, manchmal fällt es mir schwer zu verstehen, warum Menschen den Umgang mit Ihrem Pferd nicht einfach ändern, wo sie doch eigentlich wissen müssten, dass das, was sie tun, ihrem Pferd schadet, oder dieses ihm zumindest keinen Spaß macht. Und dann denke ich daran, wie lange Sie möglicherweise schon in diesem Verhaltensmuster oder in dieser Denkweise „festhängen“. Wie normal es für Sie ist, das zu tun, was sie immer tun. Wie logisch. Möglicherweise fällt es ihnen einfach schwer, nachzuvollziehen, warum ich so handele. Möglicherweise ist meine, über Jahre hinweg gewachsene Einstellung einfach so weit von ihrer eigenen Einstellung entfernt, dass sie einfach nicht greifbar ist – ohne, dass sie sich dessen bewusst sind. Selbst wenn sie sich bemühen, zu verstehen, was wir mitteilen möchten, gelingt dies manchmal nicht in Gänze. Möglicherweise versuchen sie aber auch schon etwas zu ändern und brauchen noch Zeit. Und jedes Gespräch, jeder Artikel, jedes gute Beispiel trägt dazu bei, dass sie sich Stück für Stück ein wenig annähern. Und manche, tja, manche brauchen dann einfach noch ein bisschen mehr Zeit.

Wie lange wir brauchen, Dinge zu ändern, ist so sehr abhängig davon, wie lange und häufig wir schon das Gleiche tun. Wie festgefahren wir in alten Mustern und Denkweisen sind. Und auch davon, wie sehr wir etwas ändern wollen. Und doch heißt etwas zu wissen, nicht auch automatisch, es zu können.

Sicherlich soll das kein Freifahrtschein sein für jene, die ihrem Pferd Schaden zufügen oder es unfair behandeln. Auch hier gibt es sicherlich eine Grenze. Trotzdem sollten wir sensibel dafür sein, wie schwer es ist, Dinge zu ändern, die über so viele Jahre Bestand haben – selbst wenn wir es noch so sehr wollen. Verständnis für andere, die möglicherweise auf eine andere Art trainieren als man selbst, Verständnis für unser Pferd, wenn Dinge Zeit brauchen und Verständnis für uns selbst, wenn wir mal wieder an unseren Fähigkeiten verzweifeln

Damit ihr euch dieses beeindruckende Video ansehen könnt, habe ich es euch eingebunden. Erfreulicherweise gibt es sogar deutsche Untertitel dazu 😉

Viel Spaß beim Anschauen,
Eure Sady